Fischereilicher Kollaps am Bodensee?
25 | 09 | 2023 SchweizInterview: Hansjörg Dietiker 24770
25 | 09 | 2023 Schweiz
Interview: Hansjörg Dietiker 2 4770

Fischereilicher Kollaps am Bodensee?

Sind auch andere Schweizer Seen bedroht?

Stichlinge und Quagga-Muscheln vermehren sich im Bodensee explosionsartig und entziehen den nutzbaren Fischen die Nährstoffbasis. Die Internationale Bodensee-Konferenz (IBKF) verhängt ein totales Felchenfangverbot. Daran wird sich jedoch der Kormoran nicht halten. Auf unsere bohrenden Fragen hat Dr. Dominik Thiel, Leiter des Amts für Natur, Jagd und Fischerei des Kantons St. Gallen, brisante Antworten.


«Petri-Heil»: In der Sommer-Ausgabe mussten wir ein dreijähriges Felchen-Fangverbot für den Bodensee-Obersee kommunizieren. Wie sehen nun die Verbote ab 1. Januar 2024 für Berufs- und Angelfischer im Detail aus?

Dominik Thiel: Ziel ist es, die Fischerei auf Felchen ein­zustellen und sie gleichzeitig noch mehr auf andere Arten wie das Rotauge und Raubfische (Hecht, Zander, Wels usw.) auszurichten. Nach intensiven Diskussionen innerhalb der IBKF (Internationale Bevollmächtigtenkonferenz für die Bodenseefischerei) und laufendem Austausch mit Vertretern der Berufsfischer der Anrainerstaaten sind sowohl in der Berufs- als auch der Angelfischerei diverse Massnahmen beschlossen worden, um diese Felchen­schonung konkret umzusetzen. 

Ab dem 1.1.2024 gelten, vorerst befristet auf drei Jahre, folgende neue Regelungen: 

  • Freitreibende Felchen-Schwebnetze: Diese dürfen nicht mehr eingesetzt werden.

  • Verankerte Schwebnetze: Netze der Maschenweite 38?mm sind nicht mehr zulässig. Weiterhin erlaubt bleiben drei Netze der Maschenweiten 40 – 44 mm vom 10. Januar bis 30. April.

  • Spannsätze: Zulässig sind drei Netze der Maschenweiten 40 – 44 mm monofil oder 38 – 44 mm multimonofil. Schwimmfähige Oberähren sind neu zulässig; mindestens ein Satzende muss auf der Halde liegen (beim Alterspatent beide Netzenden auf der Halde).

  • Grossfischsätze (früherer Forellensatz): vom 1. April – 15. Juli sind neu vier (früher drei) Netze erlaubt.

  • Bodennetze: Da die Felchen als Zielfisch nicht mehr erlaubt sind, heissen die Netze neu Rotaugen-Bodennetze. Rotaugen-Bodennetze sind wie folgt zulässig: 40 – 44 mm monofil oder 38 – 44 mm multimonofil. Ab 10. Mai dürfen monofile Netze von 38 – 44 mm bis zu einer Wassertiefe von maximal 20 m eingesetzt werden. 

Die Fischereibehörden der Kantone St. Gallen und Thurgau haben sich dazu entschlossen, die Berufs­fischer mit Hochseepatenten zu unterstützen und die Neuanschaffung von Netzen mitzufinanzieren. Neu­anschaffungen von Netzen werden einmalig mit bis zu maximal  CHF 7200.– pro Hochseepatent-Inhaber finanziert beziehungsweise rückvergütet.

  • Angelfischerei: Komplettes Felchen-Fangverbot, ganzjährige Felchen-Schonzeit. Bei der Ausübung der Angelfischerei vom Boot aus muss an Angeln mit mehr als einer Anbissstelle (Hegene) die Hakenweite am Einzelhaken mindestens 6 mm betragen. Dies, um den Beifang von Felchen zu verhindern.

 

Dr. Dominik Thiel
Leiter Amt für Natur, Jagd und Fischerei, Kanton St. Gallen.

«Jeder See ist ein eigenständiges Ökosystem. Je nach See können andere Faktoren für die Entwicklung der Fischbestände relevant sein (Nährstoffe, Kormorane, Neobiota usw). Der Bodensee befindet sich in einem massiven ökologischen Umbruch, der sehr schnell abläuft. Es ist mit weiteren Überraschungen zu rechnen.»


Interessant, dass gewisse neu zugelassene Berufsfischer-Netze vorgeschrieben werden, die aktuell gar nicht im Handel erhältlich sind …

Tatsächlich sind gewisse Netze im Handel entweder per 1. Januar 2024 nicht erhältlich oder müssten in aufwendiger Handarbeit abgeändert werden. Gewisse gesetzeskonforme Netze wären in Asien erhältlich, aber mit einer Lieferfrist von etwa zehn Monaten und einer Mindestbestellmenge von 1000 Stück …

 

Woran krankt denn der Felchenbestand im Bodensee?

Um die Entwicklung der Felchenerträge zu verstehen, muss man länger zurückblicken: Der Bodensee ist natürlicherweise nährstoffarm. Mitte des letzten Jahrhunderts stieg der Nährstoffgehalt stark an. Die drei Hauptursachen für die starken Nährstoffeinträge in die Gewässer waren: 1. Die Abwässer (Fäkalien) aus den Haushalten, 2. Die Landwirtschaft, 3. Das Phosphat in Waschmitteln.

Mit dem Bau von Kläranlagen, dem Phosphat-Verbot in den Waschmitteln von 1986 und Massnahmen in der Landwirtschaft sank der Nährstoffeintrag in den Bodensee wieder. Heute liegt der Phosphorgehalt wieder im ursprünglichen Bereich.

Als die Nährstoffbelastung im Bodensee am höchsten war (1970-1980er-Jahre), wurden weniger Felchen gefangen als in den 1990er-Jahren, wo bereits viel weniger Nährstoff im See war. Diese Zeitspanne zählt zu den goldenen Jahren der Felchenfischerei. Dennoch war die Fischerei­ darauf angewiesen, dass junge Felchen ein­gesetzt wurden, da die natürliche Reproduktion beeinträchtigt war. Zudem starb in Folge der Eutrophierung eine der vier Felchenarten des Bodensees aus.

Mit der Re-Oligotrophierung (zurück zur nährstoffarmen Situation) aufgrund der gebauten Kläranlagen am See gingen die Fänge nach dem Peak in den 1990er-Jahren deutlich zurück. Seit dem Jahr 2013 brachen die Felchenfänge nochmals deutlich ein; in den letzten drei Jahren haben sie sich nochmals halbiert. Für diese aktuelle Situation sieht man aktuell hauptsächlich zwei Ursachen:

  1. Die Bestandsexplosion des Stichlings. Dieser frisst den Felchen die Nahrung weg (Zooplankton). Heute sind bis zu 96% der Fische im Offenwasser des Bodensees Stichlinge. Zudem fressen die Stichlinge auch direkt Felchen-Larven. 

  2. Wir befinden uns ebenfalls in einer Phase der Bestandsexplosion der Quagga-Muschel. Diese filtert die Nahrung des Zooplanktons aus dem See. Der «Quagga-Effekt» wird vermutlich erst in naher Zukunft noch richtig durchschlagen. Es ist zu erwarten, dass bald auch die Häufigkeit anderer Fischarten abnehmen wird. Somit sind aktuell Neobiota das Hauptproblem.

 Abermillionen von Stichlingen bevölkern den Bodensee. © Robert Hansen

Abermillionen von Stichlingen bevölkern den Bodensee. © Robert Hansen

Nebst dem Felchen-Fangverbot sind gleichzeitig auch Optimierungen und Verbesserungen im Felchenbesatz vorgesehen.

Wir erhoffen uns, dass wir mit dem Fangverbot bald eine erfolgreiche Felchen-Laichfischerei durchführen können. Die geschlüpften Felchenlarven sollen nicht direkt in den See gesetzt werden, sondern zuerst markiert und dann auf eine Grösse von ca. 35 – 40 mm vorgestreckt werden. Damit erstrebt man, die Larven vor dem Frass durch andere Fischarten besser zu schützen und den Felchen­bestand im See zu stützen.  

 

Was bringt denn ein Felchen-Besatz, wenn keine Nahrung für die Fische vorhanden ist? Will man einfach die Kormorane nicht hungern lassen?

Das habe ich mich auch gefragt (lacht). Ein bisschen Optimismus muss erhalten bleiben. Wir haben fischereilich leider viel zu wenig Stellschrauben im komplexen Öko­system Bodensee.

 

86 Prozent der Fischmasse im Bodensee sollen Stichlinge sein! Eine unglaubliche Zahl, das müssen ja Abermillionen sein! Wie kann man diesen Überbestand bekämpfen?

Es gibt Ideen, mit der Schleppnetzfischerei den Bestand massgeblich zu reduzieren. Jetzt wird weiter abgeklärt, wie realistisch dies ist und ob der Beifang dadurch gering gehalten werden kann. 

 Die Quagga-Muschel hat sich explosionsartig vermehrt. © Robert Hansen

Die Quagga-Muschel hat sich explosionsartig vermehrt. © Robert Hansen

Als dritten Hauptgrund für die Bodensee-Probleme wird die explosionsartige Vermehrung der Quagga-Muschel genannt.

Seit ihrem ersten Nachweis 2016 im Bodensee breitet sich die Quagga-Muschel rasant aus. Bereits 2017 war sie in allen Seeteilen zu finden und ihre Verbreitung nimmt seither kontinuierlich zu. Eine weitere Ausbreitung und eine massive Zunahme der Bestandsdichte ist daher absehbar. Die hohe Besiedlungsdichte in Verbindung mit der Filtrationsleistung der Quagga- und der Zebramuschel führt zu Nahrungskonkurrenz und damit zu einem Rückgang der Biomasse des pflanzlichen Planktons. Dieses fehlt dann dem Zooplankton als Nahrung, welche wiederum essentielle Nährtiere für die Felchen enthält, und zwar für die Larven wie auch für die Adultfische. Es ist zu erwarten, dass dadurch die Produktivität des Bodensees weiter abnimmt und die Fischbestände noch weiter zurückgehen werden.

 

Nicht erwähnt haben wir bisher den Kormoran. Er frisst ja inzwischen mehr als die Berufsfischer fangen! Also müssen die Berufsfischer mit engeren Maschen fischen, um gleich viel zu fangen wie vorher. Und das wiederholt sich, bis man auf die nicht einmal abgelaichten Felchen fischt.

Der Kormoran ist ein Opportunist. Er frisst mal Felchen, mal Egli, mal Weiss­fische. Die Maschenweite hingegen hat man wegen des geringeren Wachstums und deutlich geringerem Gewicht der Felchen reduziert, da der Nährstoffgehalt zurückging. Genau in dieser Zeit des Nährstoffrückgangs nahm die Kormoranpopulation kontinuierlich zu.

Vorarlberg betreibt ein aktives und sehr erfolgreiches Kormoran-Management durch die Beeinflussung der Nester, der Neststandorte und durch gezielte Abschüsse. Damit konnte die Anzahl Brutpaare am österreichischen Ufer stabil gehalten werden. 

In Baden-Württemberg, wo eine grün-schwarze Regierung am Ruder ist, wird hingegen erst über Massnahmen diskutiert. Man verschanzt sich noch hinter der EU-Vogelschutzrichtlinie. Am deutschen Ufer wachsen die Kormoranbestände ständig.

In den Kantonen St. Gallen und Thurgau werden Abschüsse von Kormoranen an Netzen getätigt, in St. Gallen gibt es noch keine Brutaktivitäten dieser Vögel.

 

Alles in allem eine traurige Bilanz am gebeutelten Bodensee. Offensichtlich sind die Biologen am Ende ihres Lateins. Gibt es in der Wissenschaft oder den Verwaltungen eine Bereitschaft, neue Ansätze zu finden? Zum Beispiel Entlastung von der Berufsfischerei oder Schutzzonen, wo gar nicht gefischt werden darf usw.?

Die Wissenschaft liefert wertvolle Resultate. Es liegt jetzt an den Behörden, diese Erkenntnisse fachgerecht zu nutzen und im Vollzug zu berücksichtigen. Wir haben wenig Stellschrauben. Das Fangverbot ist eine Konsequenz aus dem Fischereigesetz, welches den Schutz bedrohter Arten und eine nachhaltige Fischerei voraussetzt. Mit dem Vorstrecken der Felchenlarven und dem Stichlingsfang erhofft man sich positive Effekte auf den Felchenbestand. Man muss schon Optimist sein, um an steigende Felchenbestände zu glauben. Die Wissenschaft ist hier pessimistischer – und wohl realistischer.

 

Ökosysteme haben ja glücklicherweise irgendwann die Fähigkeit, sich zu erholen. Ein Mehr an grossen Egli, Zander, Forellen und Hechten könnte ja bestens von den riesigen Stichlingsschwärmen profitieren und diese eindämmen.

Ich bin sicher, dass sich früher oder später weitere Veränderungen einstellen werden. Ob diese einen positiven Effekt auf die beliebten Nutzfischarten haben, wird sich weisen. Der Quagga-Effekt wird sich aufgrund bisheriger Erfahrungen in Nordamerika auf ufernahe Fischarten weniger auswirken als auf «Hochseefische».

 

2 Kommentare


Jürg Scherrer

26 | 09 | 2023

Was würde wohl passieren, wenn die Wissenschaft durch Erhöhung der Phosphatmenge etwas an der Stellschraube „pflanzlicher Plankton“ drehen würde um so die Menge „Zooplankton“ als Futter für die Felchen zu erhöhen? Würde das als Konsequenz dann wohl auch die Biomasse „Stichlinge“ und „Quaggamuscheln“ erhöhen? Oder würde das hauptsächlich den Felchen zugute kommen, die jetzt am Verhungern sind? Die Fische im Bodensee brauchen dringend Hilfe durch die Wissenschaft.


Bieuer Ruedi

01 | 10 | 2023

Hallo, Ich habe gehört das Regenbogen Forellen kein Mindestmass am Bodensee haben weil sie kein einheimischer Fisch sei... Der Kormoran kam anfangs 1980 in die Schweiz und der darf bleiben. Im Norden Europas durftem die Eier in dieser Zeit nicht mehr getochen werden aber das muss man jetzt tun.


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