Fischen 2050
22 | 06 | 2020 DiversesText: Rolf Michel | Illustrationen: Patrick Stieger 06044
22 | 06 | 2020 Diverses
Text: Rolf Michel | Illustrationen: Patrick Stieger 0 6044

Fischen 2050

Wir schreiben das Jahr 2050. Ich wäre 2042 pensioniert worden. Doch 2028 wurde das Renten­alter zur Rettung der Pensions­kassen zuerst mit einer «Flexi­bilisierung» verwässert, anschliessend wurden die Pensionskassen mit Einführung des bedingten Grundeinkommens Mitte der 2030er-Jahre abgeschafft. Heute ist der Begriff «Altersrente» jungen Leuten nicht mehr geläufig, er wird gelegentlich noch von Historikern herangezogen, um wirtschaftliche Konzepte des vergangenen Jahrhunderts zu veranschaulichen.

Die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts war eine bewegte Zeit. Noch vor dreissig Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ich einmal mit meinen Freunden am Fluss sitzen und Egli am Stock braten würde. Hinter uns unsere E-Fahrräder, vor uns ein gesundes, renaturiertes Gewässer. Leider etwas zu warm für die Salmoniden. Einzig der Lachs macht jährlich seinen Run zu den vor rund 20 Jahren eingerichteten Kinderstuben. Ich mag mich gut daran erinnern, wie wir damals mit grossem Eifer die Brutboxen in den Quellbächen verankerten. Beim Anblick des ersten kleinen Lachses, ein Beifang beim Fliegenfischen ein paar Jahre später, vergoss ich fast Tränen. Den Lachs gezielt zu befischen ist heute unter Androhung hoher Geldstrafen verboten. Einzig eine Handvoll Karten werden zwecks eines staatlichen «Monitorings» vergeben. Die Fischerei geschieht im Beisein einer Delegation aus Wissenschaft, Umweltverbänden und Politik. Gefangene Aufsteiger unterlaufen einen Gesundheitscheck, werden vermessen, fotografiert und schwimmen dann weiter zu ihren Laichgründen. 

Es war in den 2020ern dieses Jahrhunderts, als mir bewusst wurde, welche Bewegung in der Gesellschaft im Entstehen begriffen war. Die Folgen von Corona und Klimaveränderung konnte man nicht ignorieren. Die Wirtschaft lag am Boden und nahm nur langsam Fahrt auf. Der schlechte Zustand unserer Umwelt liess Taten folgen. Mit Umweltbewegungen und Konsumverzicht brachten junge Leute ihren Unmut und ihre Ängste in die Mitte der Gesellschaft.

Was haben wir die Annahme der Trinkwasserinitiative abgefeiert. Endlich Schluss mit Pestiziden. Es war wunderbar, wir feierten den Sieg mit lokalem Bier und Schaumwein. Alle waren glücklich, aus Liebe zur Natur oder zur Heimat oder beidem. Dann wurde es etwas schwieriger. Den privaten Konsum per demokratischem Entscheid einzuschränken misslang trotz oder gerade wegen der entbehrungsreichen Erfahrungen mit Corona gründlich. Darauf rief die Regierung per Bestimmung den Klimanotstand aus und umschiffte so den Volkswillen. Nach und nach erliess sie erste einschränkende Konsumvorschriften. Die sogenannte «Dieselgesetzgebung» zum Beispiel teilte jedem Einwohner ein Kontingent fossiler Treibstoffe zu. In der Folge stiess auch ich meinen Wagen ab. Viele Stadtbewohner handeln heute ihre nicht benötigten «Treibstoffzertifikate» mit der Landbevölkerung. Ich stelle mein Kontingent meinem Fischereiverein zur Verfügung, gegen freie Mitgliedschaft und Bootsbenutzung. So können wir weiterhin einen Teil unserer Vereinsboote mit Benzinmotoren betreiben. Die anderen laufen elektrisch und werden per Solaranlage aufgeladen. Sie sind nachhaltig und leise, etwas langsam, aber dennoch begehrt. Denn seit durch Reduktion der Wochenarbeitszeit die Arbeit neu verteilt wurde, haben die Leute Zeit zum Fischen. Unsere Vereinsflotte befindet sich seither praktisch im Dauerbetrieb.

 

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