11 | 06 | 2021 | Video | Diverses | 2 | 9493 |
11 | 06 | 2021 | Video | Diverses |
2 9493 |
Pro & Kontra | Netflix – Seaspiracy
«Seaspiracy» ist ein Dokumentarfilm über die Umweltauswirkungen des Fischfangs. Der Film unter der Regie von Ali Tabrizi, produziert von Kip Andersen, wurde im März 2021 weltweit auf Netflix veröffentlicht.
Kontra
rur – Der Protagonist Ali, gespielt vom Regisseur selbst, nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise in die Abgründe des Fisch- und Walfangs. Er wird als unser Kollege inszeniert, dem wir bei seiner «Enthüllungsrecherche» über die Schulter schauen dürfen und mit dem wir uns identifizieren können. Wir folgen ihm auf seiner Mission gegen die Bösen der Fischindustrie. Im Zentrum stehen Themen wie Überfischung, Walfang, Zerstörung der Meere und die Verschmutzung durch Plastik. Die Komplexität dieses Ökosystems und der Schutz desselben wird auf ein Fazit reduziert: Wer die Meere retten will, verzichtet auf Fisch. «Seaspiracy» arbeitet mit zugespitzten Aussagen und Bildern, die ein düsteres Weltbild kreieren. Maximale Aufmerksamkeit und Erregung stehen im Fokus, nicht Objektivität und Differenzierungen. Verwesende Fische und Wale, blutgetränkte Küsten und Menschen mit Waffen werden vorgeführt. Erschreckende Zahlen und Schlagzeilen werden dazwischen eingeblendet und schaffen Zusammenhänge, die in diesem Augenblick logisch erscheinen.
Aber so einfach ist es nicht. Die Situation der Ozeane und ihrer Nutzung ist sehr komplex und vielschichtig. Die propagierte Lösung «Esst (einfach) keinen Fisch mehr!» greift zu kurz und rettet die Meere nicht. Weitere Faktoren wie die Klimaerwärmung, Übersäuerung durch CO2, Überdüngung und Sauerstoffarmut, toxische Stoffe und mariner Rohstoffabbau bleiben unerwähnt oder werden heruntergespielt. Die Fischerei ist ein Faktor unter vielen. Und ob man Fisch essen oder sich lieber vegan ernähren will, können nicht alle Menschen frei entscheiden. Fisch deckt den täglichen Proteinbedarf von drei Milliarden Menschen weltweit. Fische und Meeresfrüchte sind vor allem in Entwicklungsländern eine wichtige und erschwingliche Proteinquelle. Fischerei und Aquakultur sichern zudem das Einkommen von 800 Millionen Menschen. Der Regisseur präsentiert sich als «Retter» aus westlicher Sicht, mit einem (post)kolonialen Beigeschmack.
Die präsentierten Zahlen sind teilweise schlicht falsch. Eine zentrale Aussage beispielsweise, wonach die Meere «bis 2048 leergefischt sein werden», gilt inzwischen als klar widerlegt – auch durch die Autoren der betreffenden Studie selbst. Marine Ökosysteme können sich rasch erholen und im Meer sterben Arten kaum je vollständig aus. Trotz Überfischung verbleiben Restpopulationen, aus denen sich Bestände wieder aufbauen können. Auch die allgemein formulierte Behauptung: «Es gibt keine nachhaltige Fischerei» entspricht so nicht der Wahrheit. Es gibt auch erwiesenermassen nachhaltige Fischereien. Doch die weit verbreitete und zunehmende Überfischung ist ein reales Problem, das in dieser Dokumentation zu Recht ins Rampenlicht gerückt wird. Jedoch wird das auf eine fragwürdige Art getan. Das Thema ist zu wichtig und vielschichtig, um es auf eine einseitige und undifferenzierte Weise zu präsentieren. Die Vertreter der Fischereibranche können diesen Film kaum ernst nehmen und der durchschnittliche Zuschauer erhält ein verzerrtes Bild. Er lässt (selektiv) wichtige Informationen aus und diskreditiert auf grenzwertige Weise Nachhaltigkeitslabels wie «MSC», «Dolphin Safe» oder die NGO «Plastic Pollution Coalition». Nach diesem Film hat man den Eindruck, dass es nur schwarz (Fisch essen) und weiss (keinen Fisch essen) gebe. Doch wenn diese Organisationen boykottiert und geschwächt werden, ist niemandem geholfen. Denn im Grundsatz setzen sie sich ebenfalls für den Schutz unseres Planeten ein, auch wenn sie nicht perfekt sind und sich weiterentwickeln müssen. Mit Verständnis für die Komplexität unseres Konsums können wir unsere Umwelt zielführend schonen. Mit der gebotenen Vorsicht genossen, kann man diesen Film als Anlass zum Nachdenken und Verbessern der angeprangerten Zustände nehmen.
Pro
nna – Netzflix-User aus meinem Umfeld empfahlen mir den Film mit folgenden Worten: «Wenn Du Seaspiracy gesehen hast, isst Du nachher keinen Meerfisch mehr.» Und tatsächlich; es ist verdammt harte Kost, die da präsentiert wird, und sie schlägt einem richtig auf den Magen. In einem atemberaubenden Stakkato führt uns der Film von einem apokalyptisch anmutenden Fisch-Schlachtfeld zum anderen und zeigt in eindrücklichen Zahlen den immensen Schaden, der die industrielle Fischerei den Weltmeeren zufügt und die grausame Gleichgültigkeit gegenüber diesem gigantischen Ökosystem. In spannender Undercover-Manier ist man hautnah dabei, wenn Sea Shepherd gegen illegale chinesische Schiffe vor der Küste Westafrikas vorgeht, oder wenn die japanischen Delfin-Fischer wieder mal hundert Delfine fangen, ein paar wenige für die Vergnügungsaquarien dieser Welt am Leben lassen und der Rest abgeschlachtet wird. Wut und Verzweiflung kommen beim Betrachter hoch, und wenn man dann noch die Interview-Verweigerung des Nachhaltigkeitslabels MSC oder die seltsamen Antworten weiterer mit der Fischereiindustrie verbandelter Organisationen sieht, ist der Gedanke an eine Meer-Verschwörung, wie sie der Titel «Seaspiracy» suggeriert, tatsächlich nicht weit.
Nun, der Film ist nicht ohne Widerspruch geblieben. So wird zurecht auf einige überspitzte Zahlen hingewiesen, aber das ist – verglichen mit den laschen Kontrollen bei der Vergabe von Nachhaltigkeits-Zertifikaten für die Fischerei und der offenbar kriminellen und ausbeuterischen Energie der Fischereiindustrie – nichts als ein letztlich zynisches Herumreiten auf Fussnoten. Klar, das vorgeblich naive Undercover-Getue des Sprechers und die dramatischen Effekte können einem mit der Zeit auf den Sack gehen, aber es ändert nichts daran, dass wir (und damit meine ich uns als Bewohner der ersten Welt) etwas gegen die Misere der Weltmeere tun können: Verzichten wir auf kommerziell gefangenen oder gezüchteten Meerfisch. Punkt. Ja, die Zusammenhänge sind komplex und die Bedrohungen für die Meere vielfältig, doch fischreiche Meere binden mehr CO2, produzieren mehr Sauerstoff und dämpfen die unmittelbaren Folgen der Klimaerwärmung um ein Vielfaches besser als leere Meere. Und wenn wir ab und zu mal Fischstäbchen essen, ist dies verglichen mit dem Konsum der Japaner und Chinesen bloss ein Tropfen auf den heissen Stein, aber – und das gilt für uns Fischer mehr als für alle anderen – wir können auf kommerziell gefangenen Fisch und Zuchtlachs und Shrimps verzichten, ohne gleich am veganen Hungertuch nagen zu müssen. Und ja, dass Vertreter der industriellen Fischereibranche diesen Film nicht ernst nehmen können, dürfen die Macher durchaus als Kompliment verstehen.
2 Kommentare
Franz Schäfer | 08 | 10 | 2021 |
Ich weiss nicht wie der Kontra Schreiber auf postkolonial kommt. Es wird ja gerade in dem Film gezeigt wie wir den Menschen, die wirklich auf Fisch aus dem Meer angewiesen sind, den Fisch sprichwörtlich vor der Nase wegschnappen.
Das ist genau dasselbe wie bei der Landwirtschaft. Die afrikanischen Fischer sind nicht subventioniert, wie unsere Fangflotten.
Und am Schluss wird der FIsch von dort in der ersten Welt gegessen.
Alexander Stebler
@nna - "... am veganen Hungertuch nagen zu müssen." - Echt? Haben Sie eine Ahnung, welche Schlemmereien die vegane Küche bereithält? Googeln Sie bitte mal "vegane Rezepte".